Wir leben in einer Zeit, in welcher wir mit Meinungen, Bildern, Geschichten, Weltanschauungen und allen möglichen Formen von Wahrheiten und Lügen geradezu überschüttet werden. Drastisch ausgedrückt befinden wir uns im medialen Dauerfeuer. Und auch, wenn man sich als Wissenschaftler oder Philosoph betätigt, wird man mit einer Unzahl an Theorien und Praktiken konfrontiert, sodass es immer wieder Zeiten gibt, in denen man die Orientierung verliert und der Zweifel oberhand gewinnt. Es ist wie ein Puzzle. Wir haben zwar tausende Wissensteile, aber wir sind nicht mehr imstande, sie sinnvoll zusammenzufügen. Die Welt erscheint fragmentiert, zersplittert und die Menschen erscheinen verrückt und ebenso orientierungslos wie man selbst.
Urlaub in der Skepsis
Das sind Zeiten, in denen sich der Geist zurückzieht. In denen man gewisse Grundannahmen hinterfragt, ohne zu einer endgültigen Antwort zu kommen. Zeiten, in denen man sich weigert, alles als gegeben hinzunehmen, sondern in denen man neu ausloten muss, in was für einer Welt man sich eigentlich befindet und was für ein Leben man führt. Die Ungewissheit und Beliebigkeit des Denkens und Tuns erscheint allgegenwärtig. Es ist in solchen Zeiten geradezu erholsam, sich von den Ansprüchen der Wahrhaftigkeit zu befreien und sich auf den Standpunkt der Skepsis zurückzuziehen.
Schon in der Antike war der Skeptizismus eine weit verbreitete Philosophie, die bezweifelte, dass man den Wahrheitsgehalt von Aussagen und den Sinn von Lebenspraktiken zweifelsfrei validieren könnte. Dieser Skeptizismus bedeutete nicht unbedingt, dass man sich nie festlegte, sondern dass viele als wahr geglaubte Fakten eigentlich einer genaueren Untersuchung bedürften. Insofern war der akademische Skeptizismus ein Wegbereiter für das wissenschaftliche Ergründen von aufgestellten Hypothesen. Der Skeptizismus kann zwar als chronischer Zweifel bezeichnet werden, aber wenn dieser Zweifel konsequent durchgeführt wird, muss dieser Zweifel auch sich selbst bezweifeln. Das bedeutet, dass für einen konsequenten Skeptiker die Möglichkeit absoluter Wahrheit ebenso besteht, wie die Möglichkeit, dass es nur relative Wahrheiten gibt. In der skeptischen Weltanschauung ist grundsätzlich alles möglich: Aber nichts gewiss.
Der Zweifel steht am Beginn großer Erkenntnisse
Am Anfang der Skepsis steht das Unvermögen die Frage: „Was ist wahr?“ zu beantworten. Man könnte dieses Unvermögen als den Beginn der Philosophie bezeichnen. Dieses Unvermögen findet sich bei Sokrates („Ich weiß, dass ich nichts weiß.“), bei dem historischen Buddha, der sich von den asketischen Yoga-Praktiken lossagte, um auf eigene Faust die Wahrheit herauszufinden, bei Descartes, der radikal alles anzweifelt, um dann zur Gewissheit „Ich denke, also bin ich.“ zu kommen und bei der „Phänomenologie des Geistes“ von Hegel, an deren Beginn ebenfalls der alleserfassende Zweifel steht. Der Zweifel sollte also keineswegs als Stillstand aufgefasst werden, vielmehr ist er die notwendige Bedingung für die Bewegung des Denkens. Der Zweifel ist die Zerstörung, die Schöpfung ermöglicht. Die Skepsis ist das Grundmotiv des eigenständigen Denkens.
Der Zweifel mag anfangs eher unangenehm sein. Er ist ein Zeichen, dass wir beginnen, die Dinge wirklich ernst zu nehmen. Ob es nun Zweifel an der Beziehung, an der eigenen Arbeitsfähigkeit oder generell an Gott und Menschheit sind — zunächst geraten wir in den Zustand der Verwirrung und Niedergeschlagenheit. Wir fangen an zu grübeln, und eventuell missmutig zu werden. Wir begeben uns auf die Suche nach Antworten, weil wir unser Nichtwissen erkannt haben. Und wenn wir nicht im chronischen Nichtwissen hängenbleiben ist das ist die positive Seite am Zweifel. Der Zweifel ist produktiv. Er befreit von Dogmen und Ideologien, daher ist der Zweifel subversiv und gefährlich für die Mächtigen. Zweifeln macht frei. Er befreit die Menschen vom Faktischen, und dem Menschen wird es möglich, die Ebene zu übersteigen, auf welcher er alles einfach hinnimmt. Durch den Zweifel wird er zu einem autonomen geistigen Wesen. Der Mensch erkennt, dass er es ist, der den Wörtern und Gedanken Wahrheit und Falschheit zuschreibt. Dass Dinge, die heute noch als selbstverständlich gelten, morgen schon hinfällig sein können.
Zweifel säen, Gewissheit ernten
Daher sehe ich den Zweifel als ein positives menschliches Vermögen. Ich sehe es als großes Privileg des Menschen, Fragen stellen zu können. Die Frage ist in gewisser Hinsicht wichtiger als die Antwort. Denn Fragen zu stellen ermöglicht menschliche Entwicklung. Sich durch den Zweifel wieder auf die Suche zu begeben, bringt uns Wachstum und Reifung, während das Festhalten an (vermeintlichen) Gewissheiten Stillstand und letztlich Tod bedeutet. Ich denke nicht, dass man erwarten kann, die absolute Gewissheit im Sinne eines „finalen Gedankengegenstandes“ jemals greifen zu können. Es gibt keinen letzten Gedanken. Auf jeden Gedanken, und sei er noch so abschließend, folgt ein neuer. Jedes tiefgehende Ergründen wird von Oberflächlichkeiten und Alltäglichem abgelöst und andersherum. Diese Welt wandelt sich beständig. Daher ist es unklug, sich festzulegen. Andererseits heißt das nicht, dass man keine Überzeugungen haben darf. Diese sollten allerdings nicht absolut sein, sondern Ausnahmen machen können. Nur ohne Absicherungen können wir das Wagnis eingehen, auf das Leben voll und ganz einzugehen.