Wenn man nach dem Stichwort „Kreativität“ im sehr lesenswerten Wikipedia-Artikel zu Platon sucht, findet man nichts. Dieses Wort taucht nicht einmal auf. Woran liegt das? Zum einen liegt das daran, dass es zu Zeiten Platons Kreativität in dem Sinne, wie wir es heute verstehen, nicht gab und zum anderen, dass Platon den abbildenden Künsten und der Dichtung eher kritisch gegenüber stand, und die Mathematik bzw. Geometrie bevorzugte. Platon war der Ansicht, dass die wahre Schönheit in der (mathematischen) Erkenntnis zu finden ist. Auf beide Punkte werde ich noch etwas näher eingehen.
Woher kommt das Wort „Kreativität“?
Kreativität leitet sich aus dem lateinischen Wort „creare“ ab, was soviel bedeutet wie hervorbringen oder erschaffen. Creare kann auch gebären heißen . Einen prominenten Platz hat dieses Wort in der lateinischen Bibel, der Vulgata, wo es in der Genesis heißt: „In principio creavit Deus caelum et terram.“ Im Anfang kreierte Gott Himmel und Erde, um es mal so frei zu übersetzen. Damit wird klar, in welchem Kontext Kreativität zunächst eine Rolle spielte.
Die Creatio, ist wie auch die Begrifflichkeiten Kreatur, Kreationismus (Bezeichnung für die Ansicht, dass ein intelligenter Gott die Welt erschaffen hat) und Schöpfung verdeutlichen, dass der Begriff der Kreativität demjenigen Wesen vorbehalten war, dass imstande ist, aus Nichts Etwas zu machen. Also Gott. Oder dem sogenannten Demiurgen, der bei Platon die Bezeichnung für Gott als weisen und freundlichen Werkmeister ist. Da der Mensch immer nur etwas umformen kann, aber nichts aus dem Nichts erschaffen kann, ist ihm eine Kreation in diesem engen Sinne nicht möglich.
Menschenmögliche Kreativität
Das ist der Grund, warum es für Platon Kreativität im heutigen Sinne nicht geben konnte. Natürlich kann der Mensch auch für Platon kreativ bzw. künstlerisch tätig sein. Dies kann er aber nur, indem er das, was er – von Gott geschaffen – vorfindet, nachahmt und die Materie in diesen Sinne umformt.
Kreativität, so wie wir sie heute verstehen, ist eher im altgriechischen Begriff der poiesis enthalten, von welchem auch die Wörter „Poesie“ und „poetisch“ herkommen. Hier unterscheidet Platon zwischen einer göttlichen und einer menschlichen poiesis. Im Zusammenhang mit der platonischen Ideenlehre bedeutet das, dass der Weltenschöpfer in der Lage ist, die Ideen, das heißt die Urbilder und Gesetze zu schaffen, nach welchen sich die materielle Welt, das heißt die Abbilder und durch die Gesetze bedingten Gegenstände richten. Der Mensch ist in der Lage, diese Urbilder mittels seines Geistes bzw. Erkenntnisvermögens zu erkennen und Abbilder zu schaffen, die besser oder schlechter gelingen.
Die kreative Hochstimmung
Das ist eine ziemlich trockene Beschreibung des schöpferischen Prozesses. Aber so ist das auch bei Platon nicht gemeint. So lässt er seinen Sokrates sagen: „Nun aber werden die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil, wenn er als göttliches Geschenk verliehen wird. [… Darum ist] der aus Gott stammende Rausch edler als die von Menschen stammende Besonnenheit“. Der kreative Mensch wäre nach Platon also eher als eine Art Vermittler zwischen der göttlichen Intelligenz und der Welt der Menschen, ein Bild, dass im Geniekult in der deutschen Romantik wieder aufkommt.
Deswegen spielt bei Platon auch der Begriff der Raserei, der mania, der „manischen“ Begeisterung eine positive Rolle in dieser Vermittlung, und zeigt, dass damals schon heilige Verrücktheit, also durchaus Wahnsinn, und Genie nahe beieinander lagen. Denn Enthusiasmus, das wörtlich „Besessenheit von Gott“ bedeutet, ist der einzige Weg, in welchem man die Urbilder, die platonischen Ideen schauen kann, und folglich ein gutes Abbild von ihnen in die materielle Welt bringen kann. Die schlechten Abbilder, d.h. Kunst, der keine echte Ideenschau vorangegangen ist, stiftet für Platon eher Verwirrung und sollte deswegen in seinem Idealstaat, den er in der Politeia entwirft tatsächlich verboten werden. Eine Zensur dürfte bei Platon also durchaus stattfinden, da sonst unfähige Dichter das Bewusstsein von Jugendlichen z.B. verwirren würden.
Wie der heutige Kreativitätsbegriff von Platon beeinflusst ist
Zuletzt möchte ich darauf eingehen, dass sich wesentliche Gedanken Platons in anderen Formen bis heute erhalten haben. Neue Ideen im Sinne der Ideenlehre kann der Mensch nicht erschaffen. Das hat sich allerdings gewandelt. Im heutigen Sprachgebrauch kann der Mensch auf jeden Fall neue Ideen haben. Eine gewisse Kontinuität ist aber auch geblieben: Noch heute kann ich keine Ideen „machen“, sondern man sagt „mir kommt da“ eine Idee. Sie ist immer noch etwas, dass mir von Außen (bzw. von Innen) her zufällt, und die ich dann aufnehme und mit ihr arbeite, um sie umzusetzen. Die Idee ist ein Ergebnis des In-sich-Hineinhorchens, sie ist ein rezeptives Vermögen, und kein aktives, bearbeitendes.
Wenn wir von Kreativität sprechen, meinen wir daher oft, die eigenen inneren Potenziale zu erkunden und sie manifest werden zu lassen, d.h. sie in die sinnliche Welt zu bringen. Worin bestehen aber diese Potenziale, oder anders gefragt: Von woher kommen Kreationen? Denn offenbar handelt es sich nicht um eine bloße Kopie, in dem Sinne, dass die kreative Idee „da liegt“ und ich sie einfach nur in die materielle Welt übersetzen muss. Im Deutschen gibt es das schöne Wort „Schöpfung“. Schöpfen heißt immer, aus etwas zu schöpfen. Im Kontext Platons würde der fähige Kreative aus der göttlichen Intelligenz schöpfen.
Sinn der Kreativität
Heute würden wir, in der Folge Freuds und der Psychoanalyse bzw. Psychologie eher vermuten, dass wir aus dem Unbewussten schöpfen. Deswegen erscheint uns der kreative Prozess als eine Art Ausdruck von emotionalen Problemen und unbewussten Inhalten. In diesem Sinne haben wir im 20. Jahrhundert z.T. die Pathologisierung der Kreativität erfahren, aber damit einhergehend auch eine Demokratisierung der Kreativität. Das bedeutet, es ist nicht mehr nur das Genie in der Lage, wirklich kreativ zu sein. Dies hat den Vorteil, dass sich mehr Menschen kreativ ausdrücken können, aber den Nachteil, dass wir mit medialen Inhalten und kulturellen Artefakten überschüttet werden. Platon hätte dies sicherlich sehr kritisch gesehen.
Was für eine Lehre können wir also aus Platons Philosophie ziehen? Sicherlich werden heute kreative Lösungen gebraucht, wie ich auch im ersten Eintrag geschrieben habe. Aber es stellt sich die Frage in welchem Kontext und für wen oder was Probleme kreativ gelöst werden. Sich dem bloßen Einzelinteresse zu beugen kann damit nicht gemeint sein, d.h. kreativ zu werden etwa für Unterhaltungszwecke oder des Profits wegen. Ein Industriedesigner, der kreativ arbeitet für Produkt XY, das keiner braucht und im Endeffekt bloß Ressourcen verschwendet, könnte sein kreatives Potenzial besser verwenden, wenn er es im Sinne des großen Ganzen verwendete. Mit Platon kann man sagen: im Sinne des Guten, Wahren und Schönen.
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Anmerkung: Wer sich für das Thema Philosophie & Kreativität interessiert, dem kann ich den ausgezeichneten Aufsatz Philosophie der Kreativität von K.H. Brodbeck empfehlen, dem ich auch einige Anregungen entnommen habe.
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